Samstag, 24. Juni 2006

Vorfahrt für die Straße - EU-Kommission empfiehlt Kehrtwende in der Verkehrspolitik

Die bisherigen Maßnahmen in der Europäischen Verkehrspolitik hatten nach Ansicht der EU-Kommission nicht den gewünschten Effekt, mehr Verkehr auf umweltfreundliche Transportmittel zu bringen. Jetzt soll es einen Strategiewechsel geben.

In einem neuen Strategiepapier zur Halbzeitbilanz des Weißbuches von 2001 gibt die EU-Kommission das Ziel einer Verkehrsverlagerung von der Straße auf die Schiene nahezu auf. Erwartet wird darin ein Anstieg des Lkw-Güterverkehrs zwischen 2000 und 2020 um 55 Prozent, beim Schienengüterverkehr dagegen nur um 13 Prozent. Die Eisenbahnen sollen dann nur noch einen Marktanteil von acht Prozent bei der Fracht und fünf Prozent bei Passagieren haben. Nur auf Langstrecken, in städtischen Gebieten und in überlasteten Korridoren wolle man weiter auf umweltfreundliche Transporte setzen, sagte EU-Verkehrskommissar Jacques Barrot am Donnerstag bei der Vorstellung des Papiers in Brüssel. Alle Verkehrsträger sollten künftig gleichermaßen gefördert werden.
Die Allianz pro Schiene sieht den Zwischenbericht mit gemischten Gefühlen. Positiv sei die Empfehlung der EU-Kommission, den Öffentlichen Nahverkehr stärker zu fördern, während die Bundesregierung in Deutschland das Gegenteil praktiziere. Für Unverständnis sorgt dagegen bei dem Bündnis aus Gewerkschaften, Umwelt- und Verkehrsverbänden, dass Brüssel von einem sinkenden Marktanteil der Schiene ausgehe. Wenn die EU diesen Verkehrsträger mit gerechten Wettbewerbsbedingungen stärke, werde er seinen Marktanteil in Europa weiter ausbauen.

Ganz ohne Folgenabschätzung

Für den stellvertretenden Vorsitzenden des Verkehrsausschusses im Europaparlament, Gilles Savary, ist nun klar, dass die EU das große Projekt aufgegeben hat, ein nachhaltiges Verkehrssystem zu schaffen. »Ich akzeptiere die Art und Weise nicht, wie die Kommission ein Thema mit solch schwerwiegenden Konsequenzen und ohne die geringsten Folgenabschätzungen vorantreibt«, sagte Savary. Er vertrat die Auffassung, dass die von Brüssel gewünschte Liberalisierung der Bahn dazu führen werde, dass großen Unternehmen wie die Deutschen Bahn oder die französische SNCF kleinere Firmen in Osteuropa schlucken. Dann müsse mit dem Verlust von Arbeitsplätzen in diesen Ländern gerechnet werden.
Die grüne Europaabgeordnete Eva Lichtenberger kritisiert, Kommissar Barrot sei »vor der Straßenlobby in die Knie gegangen«. Die Grünen wollten im Parlament nun alles tun, »um einen fatalen Schwenk in der Verkehrspolitik zu verhindern«. Helmuth Markov von der Linken im Europäischen Parlament erinnerte die Kommission an ihre ursprüngliche Zielstellung, das Verkehrsaufkommen bei einer gleichzeitigen Sicherung des allgemeinen Zugangs zu kostengünstigen und qualitativ hochwertigen Verkehrsdienstleitungen, auch in den ländlichen Regionen, zu reduzieren. Mit den neuen Prioritäten rücke dies genauso in weite Ferne wie das ehrgeizige Ziel, die Zahl der Verkehrstoten von 2001 bis 2010 zu halbieren.

Dagegen schwärmt der Vorsitzende der CSU-Europagruppe Markus Ferber von dem bevorstehenden Kurswechsel in der Verkehrspolitik. Jahrelange Subventionen hätten den Verkehr nicht von der Straße auf die Schiene umleiten können. Das Auto müsse »Teil des Mobilitätskonzepts für das 21. Jahrhundert« werden. Eine einseitige Förderung der Schiene bringe nichts.

Als Hoffnungsschimmer bezeichnen es die Grünen, dass die Kommission wenigstens daran festhält, die Verursacher von Umweltschäden an den entstehenden Kosten zu beteiligen. So werde eine Erhöhung der Maut bei besonders sensiblen Strecken wie den Alpenübergängen ebenso nicht mehr ausgeschlossen wie ein Handel mit Transitrechten, erklärte Eva Lichtenberger. Damit werde die Einrichtung einer »Alpentransitbörse« möglich, wie sie die Grünen und Umweltschützer seit langem fordern. Ob hiermit Lenkungseffekte erzielt werden können, hänge jedoch von der Menge der vergebenen Transitrechte ab. »Diese muss stark beschränkt werden, damit der Alpentransit ein knappes Gut wird.«

Sinn der Eurovignette aufgeweicht

Von anderen Experten wird indes die Zukunft der »Eurovignette« bezweifelt. Nach monatelangen Verhandlungen sei ihr ursprünglicher Zweck, die Finanzierung alternativer Verkehrsmittel, aufgeweicht worden. Nach derzeitigem Stand der Dinge sei die Vignette allenfalls noch eine Gebühr zur Finanzierung des Straßenverkehrs, meinen die Kritiker: Die Verkehrspolitik der EU sei deshalb auf bestem Weg, einen »großen Glaubwürdigkeitsverlust« zu erleiden.

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