Freitag, 25. Januar 2008

Russland und Türkei am Pranger

Insgesamt 1503 Urteile fällte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2007. In 1349 Fällen wurden Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention festgestellt. Das geht aus dem jetzt vorgelegten Jahresbericht des Gerichts hervor.

Heftige Kritik übte der Präsident des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, Jean-Paul Costa, an den Menschenrechtsverletzungen durch Russland und die Türkei. Nach der Bilanz für das Jahr 2007 sei Russland mit rund 20 300 anhängigen Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen das schwarze Schaf unter den 47 Europaratsländern, sagte Costa am Mittwoch in Straßburg. Das Land sei 175 Mal verurteilt worden. Allein 200 Klagen hatten sich auf das russische Vorgehen in der Kaukasusrepublik Tschetschenien bezogen. Als Gründe für die Beschwerdeflut aus Russland nannte der Präsident die zunehmende Bekanntheit des Gerichtshofes in Russland. Hinzu komme die große Bevölkerungszahl. »Dort gibt es immer mehr Anwälte und Nichtregierungsorganisationen, die sich an die Straßburger Richter wenden«, sagte Costa. Als Enttäuschung wertete er die Weigerung Russlands, das Protokoll Nr. 14 zur Europäischen Menschenrechtskonvention, das die Arbeit des Gerichtshofes reformieren sollte, zu ratifizieren.

Gegen die Türkei haben im vergangenen Jahr 9150 Beschwerden vorgelegen, darunter befand sich auch die Klage des minderjährigen Deutschen Marco W. wegen der Untersuchungshaft in Antalya. In 319 Fällen habe der Gerichtshof den türkischen Staat wegen eklatanter Verletzungen von Menschen- und Grundrechten schuldig gesprochen.

Gegen Deutschland lagen im vergangenen Jahr rund 2500 Fälle vor, sagte Costa. Allerdings habe die Straßburger Instanz nur sieben Mal gegen deutsche Gerichte entschieden. Eine Klage liegt unter anderem vom Kindesmörder Magnus Gäfgen vor, der im September 2002 den Frankfurter Bankierssohn Jakob von Metzler entführt und getötet hatte. Er habe sich über angedrohte Folter während eines Verhörs beschwert.

Nach den Worten von Costa drohe der Gerichtshof unter einer Flut von Klagen »unterzugehen«. Demnach hatte es insgesamt mehr als 41 700 Beschwerden gegeben, womit die Zahl der anhängigen Fälle um etwa 19 Prozent im Vergleich zum Vorjahr angestiegen sei. Zudem beklagte Costa einen riesigen Überhang von derzeit etwa 80 000 Fällen, deren erstmalige Registrierung bis Mitte der neunziger Jahre zurückreichten. Mit dem derzeitigen Verfahrenstempo würde man rund 46 Jahre benötigen, um alle Beschwerden abarbeiten zu können.

Beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte können Bürger direkt gegen ihre eigene oder eine fremde Regierung klagen. Das Gericht verfügt allerdings nur über begrenzte Sanktionsmöglichkeiten, kann jedoch Schmerzensgeld-Zahlungen anordnen.

Deutsche Firmen mauern bei betrieblicher Vorsorge

Die unterschiedlichen Zusatzrentensysteme in Europa behindern nach wie vor die Mobilität von Arbeitnehmern. Das ist das Ergebnis von zwei unabhängigen Studien, die von der Europäischen Kommission in dieser Woche in Brüssel vorgestellt wurden.

Nach Ansicht des zuständigen Kommissars für Beschäftigung, Soziales und Chancengleichheit, Vladimír Spidla, stützen diese Ergebnisse die Forderung der Kommission nach einer europaweiten Initiative, die sie bereits vor drei Jahren angeregt hatte. Sollte der im vergangenen Jahr überarbeitete Vorschlag der Kommission für eine »Richtlinie zur Verbesserung der Portabilität von Zusatzrentenansprüchen« umgesetzt werden, brauchen sich Arbeitnehmer, die in eine anderes Unternehmen oder ein anderes Land wechseln, nach Ansicht von Spidla »keine Sorgen um die Zukunft« mehr zu machen. Der Vorschlag sei so konzipiert, dass EU-Bürger keine erheblichen Anspruchsverluste mehr hinnehmen müssten. Die Beschäftigten können ihre Ansprüche in andere Branchen und in andere EU-Mitgliedstaaten mitnehmen. Spidla erhofft sich auf diese Weise einen deutlichen Schub für die Kommissionsstrategie »Wachstum und Beschäftigung«.

Zu einem wesentlichen Ergebnis der Studie von Hewitt Associates zählt etwa die Tatsache, dass viele Rentensysteme keine festen Fristen für den Erwerb von Rentenansprüchen vorsehen. Damit können nicht langfristig Beschäftigte solche Ansprüche kaum erwerben. In Deutschland seien in 86 Prozent die von Firmen finanzierten Zusatzrenten erst nach zwei Jahren Betriebszugehörigkeit gesichert; der europäische Durchschnitt liege hier deutlich darunter. Außerdem geht aus der Untersuchung hervor, dass in einem Viertel der leistungsorientierten Systeme bei einem Arbeitsplatzwechsel keine Neubewertung der ruhenden Rentenansprüche der Arbeitnehmer angeboten wird. Auch in diesem Punkt haben deutsche Arbeitnehmer einen klaren Nachteil gegenüber ihren europäischen Kollegen: Wenn ein Arbeitnehmer in Deutschland seinen Job während seines Berufslebens wechselt, muss etwa bei der Hälfte der angebotenen Versicherungsverträge davon ausgegangen werden, dass der Wert der Ansprüche aus einer früheren Beschäftigung nicht mehr berücksichtigt wird.

Eine zweite Untersuchung der Katholischen Universität Leuwen befasste sich auf der Grundlage von Eurobarometer-Daten mit den Fragen, wie lange Beschäftigte an einem Arbeitsplatz bleiben, wann sie mit einem Arbeitsplatzwechsel rechnen und wie lange Berufslaufbahnen von Arbeitnehmern innerhalb der EU andauerten. Aus dem Papier geht hervor, dass durchschnittlich rund 40 Prozent der derzeit Beschäftigten innerhalb von fünf Jahren den Arbeitsplatz wechseln und demnach möglicherweise durch die langen »Unverfallbarkeitsfristen« von Zusatzrentensystemen benachteiligt werden. Zahlen über die erwartete künftige Mobilität von Arbeitnehmern ergeben ein ähnliches Bild. In beiden Fällen bestehen deutliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten.

Die betriebliche Altersvorsorge spielt nach Angaben von Spidla in Europa insgesamt eine große Rolle. Rund drei Billionen Euro sind gemäß der Studie in solchen Absicherungen gebunden. In Deutschland setzen etwa 19 Millionen Arbeitnehmer auf diese Form der Altersabsicherung. Die Höhe der Rente aus der betrieblichen Zusatzabsicherung soll im Durchschnitt bei 400 Euro monatlich liegen.

In den kommenden Monaten will die EU-Kommission mit der slowenischen Ratspräsidentschaft daran arbeiten, im Rat und mit dem Europäischen Parlament eine Einigung über eine effektive und ausgewogene Richtlinie zu finden, kündigte Spidla an. Damit sollten die Hindernisse für die Beschäftigungsmobilität abgebaut werden, ohne die Rentenversicherungsträger zu stark zu belasten.

Freitag, 18. Januar 2008

Kein Anschluss unter dieser Nummer

Im vergangenen Frühjahr hat die EU-Kommission die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, die europaweit einheitliche Notruf-Nummer 116 000 für Kinder zu aktivieren, doch die Resonanz blieb dürftig. Nur zehn Staaten haben die Nummer bisher für soziale Dienste zugeschaltet und nehmen Notrufe von Kindern oder Eltern entgegen. Auch in Deutschland gibt es bei 116 000
noch immer »keinen Anschluss unter dieser Nummer«.

In Straßburg haben sich die Parlamentarier in dieser Woche erneut mehrheitlich für das Projekt ausgesprochen. Doch wann es realisiert werden soll, blieb offen. Dabei gibt es in der Beurteilung der Notwendigkeit von derlei Maßnahmen parteiübergreifend kaum Differenzen, denn die statistischen Tatsachen sprechen eine klare Sprache: Mehr als ein Fünftel der europäischen Bevölkerung sind Kinder und diese sind weit häufiger von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen als Erwachsene. Arme Kinder leiden zudem übermäßig unter Umweltschäden und Kinder ethnischer Minderheiten sind oft Rassismus ausgesetzt.
Gewalt gegen Kinder stelle auch in Europa ein Problem dar, heißt es in dem in Straßburg verabschiedeten Papier. Dieses Phänomen reiche von der Gewalt in Familie und Schule bis hin zu länderübergreifenden Problemen wie Kinderhandel, Ausbeutung von Kindern, Kindersextourismus und Kinderpornografie.

Dass gegen diese Erscheinungen offensiv vorgegangen werden muss, darin sind sich die Parlamentarier offenbar einig. Nur mit der Umsetzung hapert es, wie das Beispiel Deutschland zeigt. Bis zum 7. Januar konnten sich beispielsweise mögliche Betreiber der Notfallnummer bei der Bundesnetzagentur vormerken lassen. Das traurige Ergebnis: Nicht eine Organisation signalisierte ihre Bereitschaft, die Hotline zu betreiben.

Die Einrichtung der Notrufnummer ist Teil der neuen Kinderrechtsstrategie der EU, über die am Mittwoch die Abgeordneten in Straßburg abstimmten. Der Bericht des Parlaments deckt knapp 200 Punkte – von der Bekämpfung der Kinderarmut, über die Verhinderung von Gewalt und Missbrauch bis zur Integration von Zuwandererkindern. Immerhin war die Debatte am Vortag die erste in der Geschichte des Parlaments überhaupt, in der man sich so komplex mit Fragen der Kinderrechte beschäftigt hatte.

So plädierten die Abgeordneten für »eine einheitliche extraterritoriale strafrechtliche Vorschrift« innerhalb der EU über die Rechte des Kindes, insbesondere was den »Verkauf von Kindern« sowie Kinderprostitution und -pornographie betrifft. Zudem unterstütze man das Engagement der Kommission, die derzeit mit den wichtigsten Kreditkartenherausgebern prüft, ob es technisch möglich ist, die Betreiber von Kinderporno-Seiten im Internet vom Online-Zahlungssystem auszuschließen. Auch ein EU-weit einheitliches System zur Klassifizierung und Kennzeichnung von Videospielen ist geplant.

Die EU-Abgeordnete der Linken Sylvia-Yvonne Kaufmann begrüßte namens ihrer Fraktion GUE/NGL, dass sich das Europäische Parlament für die Entwicklung einer gezielten Kinderrechtsstrategie der EU ausgesprochen hat. Angesichts der gravierenden Probleme sei dies »mehr als dringlich«. Mit der in Artikel 24 der Grundrechtecharta verankerten Verpflichtung sowie mit den im Lissabonner Vertrag enthaltenen neuen Rechtsgrundlagen verfüge die Europäischen Union über wichtige neue Regelungen, argumentierte sie. Diese müssten dazu genutzt werden, die EU-Kinderrechtsstrategie durch konkrete Maßnahmen in allen Bereichen umzusetzen. Die Grünen-Abgeordnete Hiltrud Breyer bezeichnete das Abstimmungsergebnis als »Lichtblick nach den enttäuschenden Vorschlägen der EU-Kommission, die zu sehr Lyrik und zu wenig konkrete Maßnahmen« dargestellt hätten.