Freitag, 26. Mai 2006

Festung Europa wird ausgebaut - Europäische Kommission will mehr Kompetenzen in Migrationspolitik

Im Rahmen eines Stufenplans will die EU-Kommission stärker in Einwanderungsfragen mitreden. Während eine Verschärfung des Asylverfahrens zu erwarten ist, sollen Zugangsbeschränkungen für Arbeitskräfte aus den neuen Mitgliedsländern fallen.

Frankreich befindet sich in guter Gesellschaft. Erst vor wenigen Tagen legte der Pariser Innenminister Nicolas Sarkozy seinen Vorschlag für ein neues Zuwanderungsgesetz vor, durch das die Erteilung von Visa und Aufenthaltsgenehmigungen drastisch verschärft und die Wartezeiten verlängert werden sollen. In den Niederlanden, in Dänemark, Belgien, Griechenland, Österreich und nicht zuletzt in Deutschland wurden die Hürden für Asylwerber in den vergangenen Jahren bereits derart erhöht, dass ihnen die Einreise nahezu unmöglich gemacht wird.

Die EU-Europäer wollen offenbar unter sich bleiben und schotten sich nahezu hermetisch ab. Allein 2,5 Millionen Nordafrikaner hoffen dennoch auf eine Chance, den reichen Kontinent zu erreichen. Für dieses Ziel nehmen sie alle Strapazen in Kauf, bezahlen Unsummen für Schlepperbanden und korrupte Beamte. Die Europäische Union hingegen versucht, die Menschen mit Milliardenbeträgen fern von den Grenzen zu halten. Mit dem Argument, die wirtschaftliche Basis in den betroffenen Staaten verbessern zu helfen, also an Ort und Stelle wirksam zu werden, finanziert Europa ein fragwürdiges Projekt. In Brüssel weiß man sehr genau, dass die Gelder nur selten dort ankommen, wo sie am dringendsten benötigt werden. Oft versickern die Mittel in obskuren Kanälen.

Am Mittwoch wollte sich die Europäische Kommission mit der Asylpolitik beschäftigen und sich vor dem für Juli geplanten Kommissionsbericht über die legale Zuwanderung in die EU verständigen. Worum es dabei geht, hatte Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble dieser Tage schon einmal klar gemacht, als er in Halle über die Migrationspolitik der EU referierte. Bis 2010 solle es ein gemeinsames Asylsystem geben, kündigte er an, das unter anderem auch »eine bessere Steuerung der Asylbewerberströme innerhalb der EU« bewirken soll. Dabei müsse das Einreiseland nicht das Aufenthaltsland bleiben, um die Sozialsysteme nicht zu überlasten. Ein Kernproblem europäischer Migrationspolitik sah der CDU-Politiker in der gespaltenen Zuständigkeit. Nach außen könne man »zusammen mehr bewegen als jeder alleine«, sagte er. Damit befindet sich Schäuble offenkundig in Übereinstimmung mit EU-Kommissar José Manuel Barroso, der im Rahmen eines Stufenplans mehr Kompetenzen auch in dieser Frage für seine Brüssler Behörde in Anspruch nehmen möchte.

Nichtregierungsorganisationen prangern das derzeitige EU-System als unfair, ineffizient und teuer an. Es sorge zudem nicht für den gewünschten Lastenausgleich zwischen den Ländern. »Kinder leiden, Familien brechen auseinander, Folteropfer werden nicht behandelt und Flüchtlinge werden dem Risiko der Verfolgung ausgesetzt, weil EU-Staaten versuchen, sich ihrer Verantwortung zu entziehen«, kritisierte etwa der Generalsekretär des Europäischen Flüchtlingsrates (ECRE), Peer Ba-neke. Laut einer Studie der Organisation, die rund 80 europäische Mitgliedsverbände vertritt, verweigern einige Mitgliedstaaten Flüchtlingen den Zugang zu einem vollständigen Asylverfahren. Zudem hätten Bewerber in den verschiedenen EU-Staaten sehr unterschiedliche Chancen auf Asylanerkennung. Für Kinder wirkten sich die EU-Regeln besonders hart aus, weil sie die Zusammenführung von Familien verhinderten. Gleichzeitig machten Staaten wie Deutschland, Belgien, Frankreich, Irland und Luxemburg so gut wie nie von der Möglichkeit Gebrauch, aus humanitären Gründen von der Abschiebung abgelehnter Asylsuchender abzusehen.

Was die legale Zuwanderung in die EU-Staaten betrifft, fordert Kommissionspräsident Barroso indes weiterhin die Aufhebung der Zugangsbeschränkungen für Arbeitskräfte aus den neuen EU-Staaten. Eine Studie der Kommission hatte konstatiert, dass Belastungen der Arbeitsmärkte der alten Mitgliedsländer ausgeblieben sind und sich die Ängste vor einer massenhaften Arbeitsmigration als unbegründet herausgestellt haben. Im Gegenteil: Übergangsfristen, wie sie auch in der Bundesrepublik beschlossen wurden, hätten zu mehr Schwarzarbeit, Scheinselbstständigkeit, Lohndruck und unfairen Arbeitsbedingungen beigetragen. Laut EU-Kommission machten Staatsangehörige der »EU-10« (die 2004 neu aufgenommenen Länder) im Jahr 2005 – mit Ausnahme von Österreich (1,4 Prozent) und Irland (3,8 Prozent) – in allen westeuropäischen Mitgliedsländern weniger als ein Prozent der Erwerbsbevölkerung aus.

Samstag, 20. Mai 2006

Brüssel fühlt Unternehmen auf den Nerv - EU-Kommission verdächtigt Gaskonzerne, gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen zu haben

Auf dem europäischen Gasbereich gibt es praktisch keinen Wettbewerb. Die EU-Kommission möchte diesen jetzt auf juristischem Wege erzwingen.

Hinter vorgehaltener Hand wird in Brüssel schon mal von »Vetternwirtschaft« gesprochen, wenn es um die europäischen Energieversorger geht. Und das Thema spielte nicht umsonst eine besondere Rolle beim diesjährigen Frühjahrsgipfel. Russlands Präsident Wladimir Putin legte bei seinem Treffen mit dem Vorsitzenden der EU-Kommission, Jose Manuel Barroso, eine alternative Strategie für langfristige Gas-Lieferverträge vor. Der Preis für ungehinderten Zugang zu der wichtigen Energiequelle schien aber vielen EU-Staatschefs sehr hoch zu sein. Russland wollte nämlich als Gegenleistung den Zugang zu Transport, Verarbeitung und Vermarktung. Was in der Praxis geschehen kann, hatte der russische Gazprom-Konzern Anfang des Jahres mit Preiserhöhungen und Lieferstopp gegenüber der Ukraine illustriert.

Auch innerhalb der EU haben längst Verteilungskämpfe um die Energieressourcen begonnen. Auch die Gasversorger versuchen, sich ihre Pfründe auf Kosten der Verbraucher zu sichern. Kommissionschef Barroso hatte schon im vergangenen Jahr mehrfach angekündigt, Brüssel werde die Entwicklung auf diesem sensiblen Markt genau beobachten.

»Wir mussten nun reagieren«, sagt ein Mitarbeiter der Brüsseler Wettbewerbsbehörde. Das Treiben der Konzerne, das von »äußerster Aggressivität geprägt ist«, sei nun deutlich spürbar gewesen. Am Dienstag und Mittwoch dieser Woche schwärmten mehr als 100 Mitarbeiter der EU-Kommission, die von nationalen Kartellbehörden unterstützt wurden, zu einer Razzia aus, um unangekündigt die Büros großer Gasversorger in Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich und Belgien unter die Lupe zu nehmen. Dabei konzentrierten sie sich auf Korrespondenz- und Protokollunterlagen der Unternehmensvorstände und zogen die Festplatten von Computern ein. »Wir erhoffen uns wichtige Erkenntnisse über den E-Mail-Verkehr«, heißt es in Brüssel.

Bei den Ermittlungen der EU-Kommission geht es offenbar um Hinweise auf geheime Absprachen von Vorständen. Es hätten sich die Vermutungen erhärtet, dass man sich »auf höchster Ebene doch recht präzise abspricht«. Außerdem sollen die Konzerne ihre Leitungs- und Speicherkapazitäten verschleiert und nicht ausgebaut haben. Alles laufe darauf hinaus, dass die Gaskonzerne ihre marktbeherrschende Stellung missbrauchen, um die vor allem mittelständisch geprägte Konkurrenz zu behindern. Dieser sei der »Einlass nahezu verschlossen geblieben«.

Das Prinzip der Gasmultis soll dabei so einfach wie wirkungsvoll sein: Sie versperrten der drohenden Konkurrenz einfach den Zugang zu Leitungen und Speichern und teilten stattdessen die regionalen Märkte untereinander auf. Grenzüberschreitend sollen sich solche Absprachen beim Gasgroßhandel zwischen Frankreich, Italien und Deutschland abgespielt haben, erfuhr ND aus der Wettbewerbsbehörde.

Eigentlich hätten die Konzerne erahnen müssen, dass ihnen derlei unangenehmer Besuch ins Haus steht. EU-Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes hatte bereits vor drei Monaten angekündigt, durch Kartellverfahren mehr Wettbewerb auf den Gas- und Strommärkten erzwingen zu wollen. Dabei hatte sich die Kommissarin auf eine Branchenanalyse bezogen, die ihre Behörde zuvor erarbeitet hatte. Die Quintessenz: Mangels Wettbewerbs zahlten in vielen EU- Ländern die Verbraucher überhöhte Preise für Gas und Strom.

Diese unangemeldeten Inspektionen sollen ein erster Schritt sein, dem Verdacht von Verstößen gegen das EU-Wettbewerbsrecht nachzugehen, rechtfertigte Kroes die zweitägige Razzia. Sollten sich die Verdachtsmomente bestätigen, hätte das vor allem finanzielle Folgen für die Konzerne. Nach einem Kartellverfahren blühten den Versorgern Strafen von bis zu zehn Prozent ihres Jahresumsatzes. Die Brüsseler Behörde indes hofft, durch drakonische Strafen »wieder halbwegs Normalität« auf dem Gasmarkt erhalten zu können.

Freitag, 19. Mai 2006

Projekte ohne »Mehrwert« - Beschlossener EU-Haushalt entzieht wichtigen Bereichen Geld

Mit ihrer Unterschrift beendeten Österreichs Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, EU-Parlamentspräsident Josep Borrell und Budgetkommissarin Dalia Grybauskaite am Mittwoch den langen Streit um den EU-Finanzrahmen für 2007 bis 2013.

Eine deutliche Mehrheit der Abgeordneten im Straßburger Parlament hatte den Kompromiss zwischen Mitgliedsstaaten und Parlament über gut 864 Milliarden Euro für sieben Jahre besiegelt. 440 Abgeordnete stimmten für die Vereinbarung, 190 dagegen, 14 enthielten sich.
Grybauskaite schwärmte von einem »historischen Tag« für die EU und Borrell rechnete vor, dass die Union jeden Bürger pro Tag 26 Cent koste. Wer dahinter einen kritischen Ansatz vermutete, sah sich jedoch getäuscht. Borrell: »Das ist nicht zu viel.« Für viele Abgeordnete sei das Ergebnis dennoch nur ein »Minimalabkommen«, mit dem eine wirtschaftliche Haushaltsführung sichergestellt werden könne. Es gebe »eine Reihe von Defiziten«, die bei der Budgetüberprüfung der Jahre 2008-2009 behoben werden müssten, sagte Borrell.

Schüssel, amtierender EU-Ratspräsident, versprach für die kommenden Jahre »konkrete Projekte«, mit denen die EU das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen solle. So könnten bis 2013 rund 100 000 zusätzliche Studenten am Erasmus-Austauschprogramm teil-nehmen, rechnete der Österreicher vor. Nach dem Kompromiss wird der Finanzrahmen gegenüber der Vorlage des EU-Gipfels vom vergangenen Dezember um zwei Milliarden Euro aufgestockt. Dank Einsparungen und Auslagerungen sollen für die EU-Programme insgesamt vier Milliarden Euro mehr zur Verfügung stehen als ursprünglich eingeplant war.

Vor allem die Vertreter der Linken und der Grünen kritisierten den Kompromiss. Viele Projekte würden nun auf der Strecke bleiben, argumentierten sie. In wichtigen Politikfeldern wie der Forschung, den erneuerbaren Energien, der ländlichen Entwicklung und der Schaffung einer Wissensgesellschaft fehlten die notwendigen Mittel, um »europäische Mehrwertprojekte anzustoßen«, meinte etwa die Haushaltsexpertin Helga Trüpel von den Grünen. »Der winzige Zuwachs von vier Milliarden Euro gegenüber der Ratsposition kann die strukturelle Unterfinanzierung des EU-Haushalts über die kommende Haushaltsperiode nicht verdecken.«

Um die Finanzpolitik der Mitgliedstaaten war es zuvor in einer Debatte des Straßburger Parlaments gegangen. In dem entsprechenden Bericht wurde den Ländern ein »Mangel an politischem Willen zur Eindämmung der Staatsausgaben, überoptimistische Einnahmenprognosen« sowie eine »kreative Buchführung« vorgeworfen. Der polnische Berichterstatter Dariusz Rosati (Europäische Sozialisten) äußerte sich besorgt über das »langsame Wachstum in Europa« und über die »anhaltend hohe Arbeitslosigkeit von neun Prozent« in den 25 EU-Mitgliedstaaten.

Mittwoch, 17. Mai 2006

Abbas ruft Europa zum Handeln auf - Rede des Palästinenserpräsidenten vor dem Europäischen Parlament

In einer Rede vor dem Europäischen Parlament hat Palästinenserpräsident Mahmud Abbas am Dienstag ein Ende des Finanzboykotts gegen die Autonomiebehörde gefordert.

»Wir stecken in einer schwierigen Phase«, erklärte Abbas. in Straßburg. Dennoch müsse die neue Regierung eine Chance erhalten, sich den »grundsätzlichen Anforderungen der internationalen Gemeinschaft anzupassen«, verlangte er und betonte: »Wir hoffen auf eine tragende Rolle Europas.«

Der Besuch von Abbas fällt in eine Zeit, in der sich die europäische Staatengemeinschaft zu einem Boykott der Hamas-Führung entschlossen hatte. Der Sieg der Hamas hatte zur Folge, dass die finanziellen Mittel eingefroren wurden, solange diese das Existenzrecht Israels nicht anerkennt. Vor einigen Tagen stimmte das Nahost-Quartett allerdings in New York dem Vorschlag der Europäischen Union zu, die Finanzhilfe an die palästinensische Autonomiebehörde für einen begrenzten Zeitraum wieder aufzunehmen. Das Programm zur humanitären Hilfe soll zunächst auf drei Monate befristet sein. Zugleich soll sichergestellt werden, dass diese Mittel nicht der Regierung zugute kommen.

Abbas signalisierte vor den mehr als 700 Abgeordneten Gesprächsbereitschaft gegenüber Israel. Allerdings seien Verhandlungen unter Partnern notwendig. Israel aber strebe derzeit eine einseitige Grenzziehung im Westjordanland an. »Israel ist dabei, diese Rolle der Partnerschaft aufzugeben und eine Lösungssuche unmöglich zu machen«, warnte Abbas. Es könne nur über eine Zwei-Staaten-Lösung gesprochen werden.

Angesichts dessen, dass der Friedenprozess seine »Antriebskraft« eingebüßt habe, rief der Präsident die internationale Gemeinschaft zu unverzüglichem Handeln auf. Es müsse verhindert werden, dass der Nahe Osten »in den Abgrund abrutscht« und in einen »neuen Kreislauf von Konflikten« gerate. Eine solche Entwicklung hätte nicht nur auf die Region negative Auswirkungen, sondern auf die »Welt als Ganzes«.

Abbas bedankte sich für die Entscheidung, die Finanzhilfen vorerst wieder aufzunehmen. Israel forderte er auf, Steuereinnahmen und Zollabgaben nunmehr »voll und ganz« an Palästina weiterzuleiten. Bisher zieht Israel diese zwar ein, reicht sie aber nicht weiter. Abbas erneuerte seinen Vorschlag, dass sich die Palästinenser sofort wieder mit den israelischen Vertretern an einen Tisch setzen sollten. Er wolle, dass ein Komitee der PLO mit der Gesprächsführung beauftragt wird. In den Europäern sehe er Freunde, die den Palästinensern auf dem Wege behilflich sein werden, endlich einen gleichberechtigten Staat neben Israel zu errichten.

Grenzen der PR-Botschaften - EU-Parlament stimmte strengen Regeln für Lebensmittelwerbung zu

Der Kompromiss um strengere EU-Vorschriften für die Lebensmittelwerbung hat am Dienstag nach der zweiten Lesung das Europäische Parlament passiert. Damit kann die Neuregelung, um die seit Jahren Lebensmittel- und Süßwarenhersteller mit Verbraucherschützern gestritten haben, noch in diesem Jahr in Kraft treten.

»Wir wollen verhindern, dass auf einem Müsli, das fast nur aus Zucker besteht, geschrieben steht, dass es gesunde Knochen macht. Solche Aussagen muss der Hersteller in Zukunft beweisen«, erklärte Sprecherin Beate Gminder die Intentionen der EU-Verbraucherkommission, strengere Regeln für Lebensmittelwerbung zu schaffen. Produzenten und Werbetreibende vor allem aus Deutschland hatten lange gegen die neue Verordnung gewettert. Zweifelsohne werden sie einige Probleme bekommen: Werbe-Versprechen sind künftig unzulässig, wenn sie nicht wissenschaftlich nachgewiesen sind. Wer wird schon schlüssig belegen können, dass ein Verbraucher tatsächlich rote Bäckchen beim Genuss eines Fruchtsafts bekommt oder beim Schlürfen von Cola zu lachen beginnt? Welcher Margarine-Hersteller wird nachweisen können, dass der Verbraucher nach dem Genuss des Produktes tatsächlich den erhofften wohlproportionierten und durchtrainierten Körper erhält, wie das der Aufdruck auf dem Deckel erahnen lässt?

Kurzum: Mit der künftigen Verordnung »zu nährwert- und gesundheitsbezogenen Angaben über Lebensmittel« sollen irreführende Werbeslogans unterbunden werden, was letztlich für mehr Klarheit und Wahrheit bei den Verbrauchern führen soll. So darf die Aussage »gut für die Knochen« auf dem Kinderriegel zwar noch aufgedruckt werden, wenn sie zugelassene Nährwertgrenzen überschreiten. Aber gleichzeitig muss eine gleichberechtigte Warnung vor dem Nährstoff (»enthält viel Zucker») auf dem Etikett zu lesen sein.

Die so genannten Nährwertprofile sollen bestimmte Obergrenzen für Zucker, Salz und Fett enthalten, die von der Europäischen Lebensmittelbehörde (EFSA) in Parma festgelegt werden. Der nach zähem Ringen zwischen Parlament und Ministerrat ausgehandelte Kompromiss besagt, dass Slogans wie »macht fit« oder »stärkt die Abwehrkräfte« nur noch Verwendung finden dürfen, wenn mindestens zwei Grenzwerte eingehalten werden.

Ausgenommen sind unverpackte Lebensmittel wie Brot, Obst und Gemüse sowie traditionelle Bezeichnungen wie »Hustenbonbons«. Ferner sollen neben den Mengen bestimmter Nährstoffe und anderer Substanzen künftig auch Rolle, Bedeutung und Beitrag des Produkts für die allgemeine Ernährung oder für bestimmte Risikogruppen berücksichtig werden.

Gerade die geplanten »Nährwertprofile« für Lebensmittel, wie sie bei Fruchtquark oder Tomatensaucen zu finden sind, waren in der jahrelangen Auseinandersetzung zwischen Verbraucherschützern und Industrie heftig umstritten – und das bleibt auch nach der Abstimmung im Europaparlament so. Die konservative EVP-Fraktion bezeichnete das Papier als einen Kompromiss, »der niemandem wirklich nutzt – weder Verbrauchern noch Unternehmen«. Insbesondere deutsche Abgeordnete übten Kritik. So sprach die SPD-Abgeordnete Dagmar Roth-Behrendt von einem »faulen Kompromiss«, der nicht zu mehr Klarheit bei den Verbrauchern führen werde. Roth-Behrendt geht sogar noch einen Schritt weiter und glaubt an ein juristisches Nachspiel. Die EU-Kommission überschreitet ihrer Ansicht nach mit dem Gesetz ihre Kompetenzen, wenn sie versuche, über einheitliche Vorschriften für die Lebensmittelwerbung Gesundheitspolitik zu zelebrieren.

Lob kam dagegen von der grünen Europaabgeordneten Hiltrud Breyer, die erklärte: »Es war längst überfällig, dass Hersteller nicht länger mit ungeprüften Heilsaussagen prahlen dürfen.« Und auch Verbraucherschützer in der EU begrüßten die neuen Marketingregeln, da sie mehr Transparenz bringen. Endlich werde eine »Trennlinie zwischen wissenschaftlich belegbaren Aussagen und PR-Botschaften« gezogen, erklärte gestern die Präsidentin des Verbraucherzentrale Bundesverbandes, Edda Müller.

Neue Regeln

Mit Inkrafttreten der EU-Verordnung gelten künftig europaweit Regeln für Lebensmittel-Werbung. Aussagen über gesundheitliche Effekte dürfen nur verwendet werden, wenn sie wissenschaftlich belegt sind. Über die Zulässigkeit der Aussagen entscheidet die Europäische Lebensmittelsicherheitsbehörde. Entspricht die Gesundheitsaussage dem anerkannten Stand der Wissenschaft, ist keine spezielle Zulassung erforderlich. Die Behörde erarbeitet eine Positivliste mit gesicherten, frei verwendbaren Aussagen.

Für nährwertbezogene Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt gelten künftig Einschränkungen. Das Hervorheben einzelner Nährwerte wie Vitamine oder Mineralstoffe ist nur noch dann erlaubt, wenn in gleicher Aufmachung auf den erhöhten Gehalt an Zucker, Fett oder Salz hingewiesen wird. Als hoher Gehalt gelten je 100 Gramm: 10 Gramm Zucker, 20 Gramm Fett und/oder 5 Gramm ungesättigte Fettsäuren, 1,25 Gramm Salz.

Freitag, 12. Mai 2006

»Spielverlängerung« bei europäischer Verfassung - Kommissionspräsident stellte Ideen zur Zukunft der EU vor

Das europäische Vertragswerk bleibt Stückwerk. Auch nach der Pressekonferenz von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso am Mittwoch ist völlig unklar, welche Schritte nach der so genannten Reflexionsphase, die nach der Ablehnung durch die Bürger Frankreichs und der Niederlande eingeleitet wurde, nun eigentlich folgen sollen. Ein Konzept liegt nicht auf dem Tisch. Barroso begnügte sich mit allgemein gehaltenen Durchhalteparolen und warb für mehr Zeit.

Die Mitteilung der Kommission ließ keine neuen Grundzüge erkennen, was die Zukunft der Verfassung betrifft. Im Gegenteil. »Wir brauchen einfach mehr Zeit«, betonte der Kommissionspräsident mehrfach und wirkte bei seinem Versuch, den Vorgang mit einem Fußballspiel zu vergleichen, eher hilf- und ratlos. Man habe jetzt »eine Spielverlängerung in Bezug auf diese Frage«, sagte er. Und wenn man aus der Sackgasse herauskommen wolle, in der man sich befinde, dann müsse eben Zeit gewonnen werden.

Dies sieht der Chef der europäischen Sozialdemokraten, Poul Nyrup Rasmussen, beispielsweise völlig anders. Die Reflexionsperiode dürfe nicht zu einer »Siesta« ausgeweitet werden, forderte er. Barrosos Kommission müsse die Debatte anheizen, anstatt die allgemeine Lethargie zu fördern.

Bisher haben 15 EU-Mitgliedsländer, zuletzt am vergangenen Dienstag das estnische Parlament mit nur einer Gegenstimme, die Verfassung ratifiziert. Barroso rechnet auch mit einem klaren »Ja« in Finnland, das in Kürze über das Dokument abstimmen wird (siehe unten stehenden Beitrag). Ob am Ende der europaweiten Diskussion der bisherige Verfassungstext, abgeänderte Grundzüge oder ein anderer Wortlaut stehen wird, sei völlig offen, sagte der Kommissionspräsident. Schließlich ließ er sich noch den Satz entlocken, dass er nicht sagen könne, ob es am Ende der noch einige Jahre andauernden Debatte überhaupt eine Verfassung geben werde. Er hoffe allerdings, dass es bis zum Ende der Amtszeit seiner Kommission und des EU-Parlaments im Jahr 2009 einen Nachfolgevertrag für Nizza, den Barroso als »institutionelle Neuordnung« bezeichnete, geben wird.

Und noch in einem anderen Punkt wird Barroso seine Rechnung ohne die Staatschefs der 25 Mitglieder machen müssen: In Fragen der Sicherheit, wie Terrorismusbekämpfung, Grenzschutz, Asylpolitik und Polizeiarbeit, die bisher fast ausschließlich Angelegenheiten der Mitgliedsstaaten waren, beansprucht er für die EU offenbar größere Kompetenzen und Entscheidungsbefugnisse. Zwar gab er dies nicht offen zu, doch läuft sein Werben dafür, dass in diesem Bereich endlich die »Gemeinschaftsmethode zum Tragen« kommen müsste, darauf hinaus.

Die EU-Kommission habe über ein Jahr benötigt, »um zu begreifen, dass sich die EU nach den gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden deshalb in einer tiefen Sinn- und Zweckkrise befindet«, weil das Vertrauen der Menschen in diese europäische Politik rapide abgenommen habe, sagte die Europaabgeordnete der Linkspartei.PDS und Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Sylvia-Yvonne Kaufmann. »Sie nehmen die erweiterte EU nicht als Zugewinn, sondern als eine zusätzliche Bedrohung ihrer sozialen Existenz wahr. Für sie ist die EU bürgerfern und bürokratisch.« Auch die Antwort, die die EU-Kommission als so genannte Hüterin der Verträge auf die zentrale Frage gebe, wie es mit dem EU-Verfassungsvertrag weitergehen soll, sei weder schlüssig noch vorwärts weisend, kommentierte Kaufmann. Hier verstecke sie sich zum einen hinter dem Rücken der Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten und präsentiere zum anderen zugleich die höchst merkwürdige Idee eines von der Verfassung abgekoppelten »Konzepts zur künftigen Regelung der institutionellen Fragen«.

Mehrfach hatte sich Barroso Argumente zurechtgelegt, um sofort Vorwürfe zum Aufbau eines neoliberalen Europas der Unternehmer entkräften zu können. Er sprach von den Erfolgen des europäischen Binnenmarktes, der bis Ende nächsten Jahres einer »umfassenden Revision« unterzogen werde. Und er erinnerte an die Vereinheitlichung von Gebühren für Handytelefonate im Ausland, die als Beweis dafür herhalten musste, dass die »großen Vorteile des Binnenmarktes den Verbrauchern nutzten«.

Eher schwammig war auch die Ankündigung des Kommissionspräsidenten, eine »Europäische Berechtigungskarte« einführen zu wollen. Mit dem Kärtchen, dass, so Barroso, nicht mit einem Personalausweis vergleichbar sein soll, werde den EU-Bürgern im gesamten europäischen Raum Zugang zum Arbeitsmarkt sowie zu Sozial- und Gesundheitsleistungen verschafft. Dies seien aber nur »erste Gedanken«, schränkte er ein. Inwieweit derlei Ideen praktikabel und mit dem Vorhaben kompatibel sind, den Bürokratieabbau in der EU zu forcieren, sagte Barroso allerdings nicht.

Mittwoch, 3. Mai 2006

eCall soll für weniger Verkehrstote sorgen - EU-Parlament stimmte für neues Notrufsystem

In seltener Einmütigkeit hat das Europaparlament für die Einführung des bordeigenen eCall-Notrufsystems gestimmt. Es beruht auf der EU-weiten Notrufnummer 112 und soll spätestens Ende 2009 Standardausstattung in neuen Pkw und Lkw werden.

43 000 Menschen verunglückten im Jahr 2004 in der EU im Straßenverkehr tödlich. Mit eCall könnten »jährlich 2500 Leben gerettet und schwere Verletzungen um etwa 15 Prozent gesenkt werden«, heißt es in einem Bericht des Europaparlaments. Die Reaktionszeit könnte bei Unfällen in städtischen Gebieten um rund 40 Prozent und im ländlichen Raum um etwa 50 Prozent gesenkt werden. Summa summarum ließen sich die »externen Kosten des Straßenverkehrs« um jährlich 26 Milliarden Euro reduzieren.

Das eCall-System, das mit Sensoren am Airbag und an der Knautschzone ausgerüstet ist, kann bei einem Verkehrsunfall einen Notruf an eine Zentrale absetzen, die in kürzester Zeit den genauen Ort ermitteln kann. Bei einem Unfall öffnet sich der Luftsack und sendet automatisch ein Signal. Außerdem kann der Fahrer den Notruf manuell tätigen.

Helmuth Markov von der Linken Fraktion im Europaparlament sieht in dem Notrufsystem »einen wichtigen Beitrag« zur Erreichung des EU-Zieles, die Zahl der Verkehrstoten bis 2010 zu halbieren. SPD-Verkehrsexperte Ulrich Stock-mann bezeichnete das Projekt als »Gewinn für die Sicherheit der Bürger«; Dietmar-Lebrecht Koch (CDU) hofft auf eine »Selbstverpflichtung der Fahrzeugindustrie«.

Einzig die Grünen stimmten gegen den Bericht. »Wir haben ein Zeichen gesetzt gegen die Tendenz des Parlaments, elektronische Notfalltechnologie statt effektivere und preiswertere Maßnahmen zur Vermeidung von Straßenverkehrsunfällen zu fördern«, begründete deren verkehrspolitische Sprecherin, Eva Lichtenberger. Das Parlament weigere sich, die Verantwortung für die Hauptursachen schwerer Verkehrsunfälle zu übernehmen – sie werden zu mehr als 50 Prozent durch überhöhte Geschwindigkeit und Alkohol am Steuer verursacht. eCall bedürfe keiner Regelung der EU; die Entscheidung treffe der Autofahrer.

Trotzdem wird das System europaweit eingeführt werden – was nicht ohne Schwierigkeiten ablaufen dürfte: EU-Verkehrskommissarin Viviane Reding bemängelt die »schleppenden Fortschritte in den Mitgliedstaaten« und forderte die nationalen und regionalen Regierungen auf, endlich die erforderlichen Strukturen zu schaffen.

Erste Erfahrungen macht derzeit die Automobilindustrie mit einem von PSA Peugeot Citroën vorgestellten SOS-System. Seit August 2005 bieten die Franzosen ihren Kunden ein kostenfreies Notrufsystem an. Ein rund um die Uhr besetztes Callcenter erhält per SMS eine Unfallinformation und kann binnen kürzester Zeit den Unfallort ermitteln und Kontakt mit dem Fahrer aufnehmen.