Mittwoch, 27. Juni 2007

Del Ponte: Tribunal braucht mehr Zeit

Die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien, Carla Del Ponte, hat sich in Brüssel für eine Verlängerung des Mandats für das Tribunal ausgesprochen.

Das Tribunal mit Sitz in Den Haag war durch die Resolution 827 des UNO-Sicherheitsrats vom 25. Mai 1993 geschaffen worden und ist zuständig für die Verfolgung von schweren Verbrechen, die ab 1991 auf dem Territorium des vormaligen Jugoslawien begangen wurden. Im kommenden Jahr sollten die Verfahren geschlossen werden, zwei Jahre später sollten die Gerichte ihre Arbeit beenden.

Nach Angaben del Pontes vor dem Außenausschuss des Europäischen Parlaments wurden in den vergangenen Jahren gegen 161 Verdächtige richterlich bestätigte Anklageschriften veröffentlicht, letztlich wären 133 Personen vor dem Tribunal erschienen. In 36 Fällen sei die Anklage allerdings zurückgezogen worden. Nicht zuletzt sei diese Zahl auf den massiven Druck zurückzuführen, der auf Zeugen ausgeübt werde, um deren Aussage vor dem Tribunal zu verhindern. Del Ponte räumte Probleme mit den Zeugenschutzprogrammen ein.

Die Chefanklägerin kritisierte erneut die mangelnde Bereitschaft zur Kooperation durch die serbische Regierung und bezeichnete die bisherige Zusammenarbeit mit Belgrad als »sehr kompliziert«. Die Staatengemeinschaft müsse Sorge dafür tragen, dass Serbien seinen Verpflichtungen nachkommt, sagte del Ponte. Es gebe Hinweise darauf, dass die Flüchtigen Goran Hadzic, Radovan Karadzic, Ratko Mladic und Stojan Zupljanin sich derzeit in Serbien aufhielten. Del Ponte wollte das Gerücht, der politische Führer der bosnischen Serben Karadzic befinde sich in Russland, nicht bestätigen. Das Interesse an seiner Verhaftung sei seinerzeit zurückgegangen, weil die Staatengemeinschaft ihre Ressourcen im Kampf gegen den Terrorismus einsetzte. Karadzic sei zwar von ihrem »Schirm verschwunden«, aber es gebe ihn noch.

Die 60-jährige Schweizerin wehrte sich gegen Verdächtigungen, dass der plötzliche Tod des ehemaligen jugoslawischen Staatschefs Slobodan Milosevic im März 2006 doch auf unnatürliche Ursachen zurückgeführt werden könne.

Freitag, 22. Juni 2007

Sturmwolken über Schloss Meise

Für Bundeskanzlerin Angela Merkel steht auf dem Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs besonders viel auf dem Spiel. Zum Ende der deutschen Ratspräsidentschaft will sie einen neuen Verfassungsvertrag auf den Weg bringen und das zwölfseitige Mandat für eine Regierungskonferenz beschließen lassen, um die Europäische Union auf eine »erneuerte gemeinsame Grundlage« zu stellen. Doch es knirscht heftig im Brüsseler Getriebe.

Seit die Kaczynski-Zwillinge in Polen an der Spitze von Staat und Regierung stehen, zeigt das EU-Barometer häufig auf Sturm. Es vergeht kaum eine Woche, in der die Gebrüder nicht mit Forderungen zitiert werden. Unmittelbar vor dem Brüsseler Gipfel präsentierte Warschau ein »Quadratwurzel«-Modell, durch das Polen sein politisches Gewicht gegenüber Deutschland erhalten möchte. Immerhin hatte das Land bereits vor dem EU-Beitritt durchgesetzt, dass es Deutschland, das etwa doppelt so viele Einwohner zählt, in seinem Stimmengewicht nahezu gleichgestellt wurde. Die Debatte um künftige Stimmrechte spielt jetzt in Brüssel eine entscheidende Rolle, denn der Berliner Vorschlag für einen EU-Reformvertrag als Ersatz für die gescheiterte Verfassung soll die Ungleichgewichte beheben, die im derzeit gültigen Nizza-Vertrag festgeschrieben wurden. Seinerzeit hatte man kleine und mittlere Staaten gegenüber den großen wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien besser gestellt.

Der neue Verfassungsvertrag sieht das Prinzip der »doppelten Mehrheit« vor, gegen das Warschau so kräftig Stimmung macht. Zuletzt brachte Premier Jaroslaw Kaczynski sogar die polnischen Weltkriegstoten ins Spiel, um Bewegung in die umstrittene Abstimmungsfrage zu bringen. In Brüssel reiste schließlich Staatspräsident Lech Kaczynski an. »Ich hoffe, dass alle in dem Geist arbeiten werden, dass wir ein faires Übereinkommen bekommen«, sagte Merkel gestern bei ihrer Ankunft in Schloss Meise. Heute früh, nach der ersten »Nachtschicht«, wird man klüger sein. Fallen stehen in Meise in großer Zahl herum. Etwa wenn es um den künftigen EU-Außenminister geht. Zum einen plädieren viele EU-Mitgliedstaaten für eine wirksame europäische Stimme im internationalen Konzert, andere, allen voran Großbritannien, wollen sich aber auf keinen Fall ihre nationalstaatlichen Befugnisse beschneiden lassen.

In Brüssel ist zu hören, dass auch einige kleinere Staaten, vor allem Luxemburg, ihre Haltung zum künftigen Verfassungsvertrag vom Ergebnis der Gipfeldebatte abhängig machen wollen. Ministerpräsident Jean-Claude Juncker kündigte an, im Fall einer »Verwässerung« des ursprünglichen Textes zu handeln. Alternative Verfassungskritiker wiederum sehen mit Sorge die sich abzeichnende mangelnde Einbindung der EU-Bürger in den Entscheidungsprozess. Merkel hatte bei einigen ihrer Besuche in benachbarten Staaten deutlich gemacht, dass es ihr am liebsten wäre, wenn sich nationalstaatliche Abstimmungen vermeiden ließen. Schließlich könnte eine neuerliche Ablehnung, wie sie seinerzeit Franzosen und Niederländer praktizierten und damit eine handfeste EU-Krise auslösten, das endgültige Aus für das Verfassungsprojekt bedeuten.

Vor mangelnder Transparenz warnte auch die Vizechefin der GUE/NGL-Fraktion im Europäischen Parlament, Sylvia-Yvonne Kaufmann (Die Linke). Eine erneuerte vertragliche Grundlage der EU brauche die Legitimation der Bürgerinnen und Bürger. Sie sollten sehen und hören, wer sich in Brüssel für ihre Interessen einsetzt, wer – wie die polnische Führung – im Windschatten der USA versuche, ein sich politisch einigendes und geschlossen handelndes Europa zu boykottieren, wer unter Missbrauch des französischen und niederländischen Neins zur Verfassung bestrebt sei, sein »nationales Süppchen« zu kochen, und wer verhindern wolle, dass die EU das Gewicht und die Instrumentarien erhält, um die Globalisierung künftig sozialer zu gestalten. Juncker sah die Chancen auf einen Gipfel-Erfolg bei 50 zu 50. Andere äußerten sich pessimistischer.

Freitag, 15. Juni 2007

Selbstbeschränkung gegen Übergewicht


Über 50 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in der EU sind übergewichtig. Darüber hinaus sind laut Brüsseler Experten 21 Millionen Kinder zu dick, und jährlich kommen rund 400 000 hinzu. Doch die EU-Kommission legte das Vorhaben auf Eis, neue Regelungen für die Lebensmittelindustrie zu erlassen. Sie hofft auf freiwillige Selbstbeschränkungen.

Am Ende war es nicht viel mehr als der erhobene Zeigefinger, den EU-Gesundheitskommissar Markos Kyprianou (Foto: EU-Kommission) der Lebensmittelindustrie zeigte. Eine gesetzliche Regelung für die Kennzeichnung von Lebensmitteln wird es vorerst nicht geben. Die EU-Kommission hofft auf eine Selbstbeschränkung der Hersteller, doch sollte das System nichts bringen, dann wolle Brüssel im Zusammenwirken mit den Mitgliedstaaten spätestens ab 2010 strenge Auflagen erlassen.

Um das wachsende Gesundheitsrisiko durch Übergewicht und Fettleibigkeit einzuschränken, sollen die Lebensmittelhersteller freiwillig den Anteil von Zucker, Fett und Salz in ihren Produkten reduzieren. Außerdem soll die Werbung für ungesundes Essen eingeschränkt werden, und auf den Produktverpackungen soll ein Hinweis auf den Nährwert zu finden sein. Kyprianou kündigte zudem an, auch die bisherige Kennzeichnungspflicht auf den Prüfstand stellen zu wollen.

Auf den ersten Blick scheint die Drohung Kyprianous tatsächlich gefruchtet zu haben: Einige große Konzerne wie Nestlé und Unilever gingen in diesen Tagen in die Offensive, denn sie wollen künftig umfangreiche Angaben zu Nährwerten schon auf der Vorderseite ihrer Produktverpackungen aufdrucken. Inzwischen haben sich nach Angaben des Bundes für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL) auch Kellogg's, Coca-Cola, Danone, Kraft, Pepsico, Masterfoods und Campbells angeschlossen.

Verbraucherschützer indes kritisieren die Konzerne. Das sei kein »wirklicher Durchbruch«, bemängelt Matthias Wolfschmidt, stellvertretender Geschäftsführer von Foodwatch, sondern lediglich eine Strategie der »Vorwärtsverteidigung«, mit deren Hilfe strengere Regeln der EU verhindert werden sollen. Seine Organisation favorisiert stattdessen ein Ampelsystem: Produkte mit hohem Fett- oder Zuckergehalt sollten einen roten Punkt, Lebensmittel mit geringeren Anteilen einen grünen Punkt erhalten.
Dagegen sträubt sich aber die Industrie. Auch der Bundesverband Deutscher Ernährungsmediziner (BDEM) hatte zu hohe Erwartungen gedämpft, die an die Auszeichnung von Lebensmitteln geknüpft werden. »Wir werden dadurch nicht zu einem Volk von Schlanken«, argumentierte BDEM-Präsident Udo Rabast. Gleichgültige Konsumenten ließen sich davon nicht beeinflussen, ein Ampelsystem sei nicht hilfreich. Der Kritik schloss sich die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten an, die das Ampelsystem als »eine verkürzte, teilweise oberflächliche Darstellung« bezeichnete. Die Gewerkschaft forderte die Einführung eines Unterrichtsfachs Ernährung an den Schulen.

Donnerstag, 14. Juni 2007

Streit um Kontrollen auf Baustellen


Die EU-Kommission droht Deutschland mit Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), um weniger strenge Kontrollen bei entsandten Arbeitnehmern aus Osteuropa zu erzwingen.

EU-Kommissar Vladimir Spidla hat der deutschen Regierung vorgeworfen, Kontrollen gegen vermeintliche illegale Beschäftigung beruhten auf einer »allgemeinen Betrugsvermutung« und verstießen deshalb unter anderem gegen die EU-Dienstleistungsfreiheit. Deshalb erwägt die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren.

Arbeitnehmer aus Beitrittsstaaten können legal in Deutschland arbeiten, wenn sie im Rahmen der EU-Entsenderichtlinie von einer Firma aus diesen Ländern geschickt werden, erklärte Spidla in Brüssel. Laut der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dürfen die Mitgliedstaaten keine unangemessenen Hürden für die Entsendung von Arbeitnehmern errichten. Es müsse ausreichen, wenn ein Arbeitnehmer seine Papiere binnen 24 Stunden den deutschen Behörden vorlegen kann. Die Pflicht zum ständigen Mitführen der Dokumente werde als Schikane angesehen.

In der deutschen Bau- und Gebäudereinigerbranche gilt das Entsendegesetz, das Mindestlöhne vorschreibt. Um Betrug und Lohndumping zu verhindern, beharrt die deutsche Bundesregierung auf »wirksamen Kontrollen«.

Die Berichterstatterin des Europäischen Parlaments, Elisabeth Schroedter (Grüne), kritisierte die Haltung der Kommission. Es sei »völlig unverständlich, dass trotz der großen Proteste im letzten Jahr die Kommission wieder eine einseitige Mitteilung herausbringt, die allein die Unternehmensfreiheit im Binnenmarkt betrachtet und nicht den Schutz der Arbeitnehmer«. Damit setze man sich über einen Beschluss des Parlaments hinweg, der eine Balance verlangt. Die Einschränkung der Kontrollmöglichkeiten sei »ein Blankoscheck für Sozialdumping und ein Affront gegen das soziale Europa«.

Nach Ansicht der SPD-Europaabgeordneten Karin Jöns schaffe die Absicht der Kommission, dass Unterlagen nur noch vorgehalten werden müssen, wenn sie nicht innerhalb einer angemessenen Frist von den Behörden der Entsendeunternehmen erhältlich seien, neue Unklarheiten. Die Kommission solle im Vorfeld der Parlamentsdebatte zum Arbeitnehmerschutz im Juli »kein neues Störfeuer« legen. Selbst der CDU-Europaabgeordnete Thomas Mann sprach von einer »Kampfansage an die deutschen Arbeitnehmer«.


DGB-Chef Michael Sommer warnte Brüssel vor einer Veränderung der Kontrollen auf deutschen Baustellen. Diese dienten dazu, illegale Beschäftigung zu unterbinden und entsandte Arbeitnehmer zu ihrem Recht kommen zu lassen. Die EU-Pläne störten den sozialen Frieden und seien auch in der gegenwärtigen Debatte um Mindestlöhne »alles andere als förderlich«.

Karussell-Betrug nervt die EU


EU-Kommissar Laszlo Kovacs geht davon aus, dass dem Fiskus europaweit bis zu 250 Milliarden Euro jährlich durch Steuerbetrug verloren gehen. Reichlich ein Viertel betreffe allein die Mehrwertsteuer, sagte er Ende letzter Woche auf einer Tagung in Brüssel.

Als gängigsten Variante der Steuerhinterziehung gilt der sogenannte Karussell-Betrug. Zu diesem Zweck werden inzwischen ganze Kartelle gegründet. Die Händler führen Waren mehrwertsteuerfrei aus dem Ausland ein und verkaufen diese mit Steuer weiter. Anstatt aber den Betrag an den Fiskus abzuführen, tauchen die Betrüger mit der vom Kunden gezahlten Steuer unter.

Nationale Behörden seien meist hoffnungslos überlastet, sagte Kovacs. Er regt deshalb eine Reihe von Schritten zur Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten an und will ein gemeinschaftliches Konzept für die Zusammenarbeit mit Drittländern vorlegen, das bis zum nächsten Jahr in Gesetzesform gegossen werden soll. Die derzeitigen Mechanismen basierten vor allem auf bilateraler Zusammenarbeit, was von Betrügern gnadenlos ausgenutzt werde.

Kovacs favorisiert außerdem Änderungen des Mehrwertsteuersystems innerhalb der EU. So sei eine Besteuerung im Herkunfts- statt wie jetzt im Bestimmungsland eines Produkts oder einer Dienstleistung weniger betrugsanfällig. Skeptisch äußerte sich Kovacs zu der von einigen Staaten formulierten Idee, die Umkehrung der Steuerschuldnerschaft auf Inlandsumsätze auszudehnen. Dabei würde die Mehrwertsteuer nicht mehr auf jeder Wertschöpfungsstufe, sondern erst am Ende der Kette erhoben. Ein solches System könnte zwar dazu beitragen, bestimmte Betrügereien zu reduzieren, schaffe aber auch neue Risiken.
Der EU-Kommissar hatte in den vergangenen Tagen allerdings signalisiert, dass er sich einem Pilotversuch zur Steuerlastumkehr bei der Mehrwertsteuer nicht verschließen werde. Österreich und Deutschland, die beide dieses Modell favorisieren, könnten das System durchaus für einen begrenzten Zeitraum einführen, meinte er. Am Ende sei aber wichtig, dass eine EU-weite Lösung gefunden und von den anderen Mitgliedstaaten akzeptiert werde. Bislang sträuben sich vor allem Großbritannien und eine Reihe osteuropäischer Länder gegen solche Pläne.

Klar gescheitert ist der Vorstoß der deutschen Ratspräsidentschaft, das europäische Steuersystem zu harmonisieren. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) konnte beim Ministerratstreffen Ende Februar seinen EU-Kollegen lediglich die Zustimmung für eine vage Erklärung abringen. »Die Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts kann durch Zusammenarbeit in Steuerfragen zwischen einzelnen Mitgliedstaaten und wo angebracht auf europäischer Ebene verbessert werden, wobei die nationale Steuerhoheit respektiert wird«, heißt es in dem Papier vielsagend.


Offenbar hält aber auch Kovacs nicht viel von den deutschen Harmonisierungsplänen. In einem Interview beschwor er, selbst »keinerlei Absichten in dieser Richtung« zu haben. Grund: Er »mag keine hoffnungslosen Unterfangen«.

Freitag, 8. Juni 2007

Grundrechte ausgehebelt


Der Vizepräsident der EU-Kommission, Franco Frattini, stellte am Mittwoch ein Strategiepapier zur Asylpolitik vor, mit dem »Visa-Shopping« und Betrug bekämpft werden sollen. Wenige Stunden später befasste sich das EU-Parlament mit vier Berichten, in denen es um die »grenzüberschreitende Zusammenarbeit insbesondere zur Bekämpfung von Terrorismus und Kriminalität« ging.

Frattini verteidigte in Brüssel erneut die 2003 eingeführte Strategie gegen Mehrfachanträge. Demnach darf ein Flüchtling den Antrag nur in jenem Land stellen, über das er in die Europäische Union eingereist ist. Jedem Antragsteller über 14 Jahren müssen die Mitgliedstaaten Fingerabdrücke abnehmen und diese über eine gemeinsame EU-Datenbank allen anderen Ländern zur Verfügung stellen. Damit sollen diese Mehrfachanträge erkennen und Flüchtlinge in das Einreiseland zurückschicken können. Zwischen Ende 2003 und Ende 2005 wären auf diese Weise rund 17 000 Menschen in ein anderes EU-Land überstellt worden, erklärte Kommissar Frattini.

Nahezu zeitgleich mit dem Auftritt Frattinis wurde im Europaparlament ein Bericht des Justizausschusses vorgelegt, der sich u.a. mit der vor drei Jahren beschlossenen Errichtung des Visa-Informationssystems (VIS) und mit dem begrenzten und gesicherten Zugang für zuständige Behörden und Europol beschäftigt. In Verhandlungen hatten sich Rat und Vertreter des Parlaments nun darauf geeinigt, eine VIS-Verwaltungsbehörde einzurichten. Die Kommission ist nach einer Übergangszeit demnach nur noch für Aufgaben, die sich aus der Haushaltsausführung ergeben, für Erwerb und Ersetzung und für vertragliche Fragen zuständig. Das zentrale VIS soll in Straßburg (Frankreich) eingerichtet werden, ein Backup-System, das bei Ausfall einspringt, wird in Sankt Johann im Pongau (Österreich) angesiedelt. Die Verwaltungsbehörde soll aus dem Haushalt der Europäischen Union finanziert werden.

Ihre Bedenken im Hinblick auf die konkrete Ausgestaltung des VIS äußerte in der Aussprache die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der GUE/NGL, Sylvia-Yvonne Kaufmann. »Nach wie vor verfügen wir hierzu über keine konkrete Folgenabschätzung, und es ist völlig unklar, ob der Umgang mit einer derart großen Datenzahl überhaupt administrativ zu bewältigen ist«, sagte sie in Brüssel. Dies sei aber eine entscheidende Frage für die Datensicherheit und vor allem für die Grundrechte jeder einzelnen betroffenen Person. Probleme sehe sie auch im Hinblick auf den Zugang von Sicherheitsbehörden zum VIS, »denn noch immer gibt es keinen angemessenen harmonisierten Datenschutz«. Der von der deutschen Ratspräsidentschaft vorgelegte Text entspreche »bei weitem nicht dem, wofür sich das Parlament ursprünglich im September 2006 ausgesprochen« habe.

Kommissar Frattini kündigte an, dass die rechtliche Stellung der anerkannten Flüchtlinge gestärkt werden soll, die seit mehr als fünf Jahren in der EU leben. Sie würden dann ein Recht auf Freizügigkeit sowie eine Arbeitserlaubnis erhalten, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Dazu zählten unter anderem ein geregeltes Einkommen sowie eine Krankenversicherung. Frattini bezeichnete es als »ungerecht«, dass die EU diese Rechte 2003 nur legal in der EU lebenden Einwanderern zuerkannt habe, nicht aber ebenso integrierten Flüchtlingen.

Nach Angaben der EU-Kommission stellen immer wenigen Menschen einen Antrag auf Asyl. Vor fünf Jahren hatten noch rund 400 000 Gesuche vorgelegen, im Jahr 2006 sank die Zahl mit rund 182 000 Anträgen auf nicht einmal die Hälfte. 21 000 Hilfesuchende wandten sich an die deutsche Regierung, doch nur 2000 Anträge wurden positiv bescheinigt. Dagegen bewilligte Schweden aufgrund seiner liberalen Regelungen allein 22 000 Anträge von Asylbewerbern.


Die Europaabgeordneten stimmten zudem in dieser Woche einem Bericht des Justizausschusses für einen Rahmenbeschluss des Rates zum »personenbezogenen Datenschutz bei polizeilicher und justizieller Zusammenarbeit« zu. Sie sprachen sich dafür aus, einen Grundsatzkatalog an den Beschluss anzuhängen, der fundamentale Rechte und Pflichten enthält. Nach der ersten Stellungnahme des Parlaments war der Rahmenbeschluss im Rat zunächst blockiert worden.

»Ohrfeige für Brüssel«

Das Europäische Parlament unterstützte in dieser Woche mehrheitlich eine Mitteilung der EU-Kommission zur »Eindämmung des Verlustes der biologischen Vielfalt«.

Der Artenreichtum sei zwischen 1970 und 2000 um 40 Prozent zurückgegangen und »seit dem Jahr 2000 sind jährlich rund 36 Millionen Hektar primärer Urwald verschwunden«, erklärte Berichterstatter Adamos Adamou von der linken GUE/NGL-Fraktion in Straßburg. In dem Parlamentspapier wird eine nachhaltige Raumplanung gefordert, die ebenso unerlässlich sei wie eine EU-Fischereipolitik, die der Überfischung der Meere ein Ende setzt. Die Kommission wurde aufgefordert, für die Zeit nach 2010 eine »Vision für die biologische Vielfalt« auszuarbeiten.

Daneben stimmten die Abgeordneten für die im Vermittlungsausschuss erzielte Einigung zwischen Rat, Kommission und Parlament zum EU-Förderprogramm Life+. Das Parlament hatte sich zuvor insbesondere einer durch die Kommission favorisierten »Renationalisierung« der Umweltpolitik widersetzt. Außerdem forderten die Abgeordneten eine andere Aufteilung der Finanzausstattung innerhalb des Programms: Nunmehr sollen 50 Prozent der Mittel für Natur- und Artenschutz eingesetzt werden. Für 2007 bis 2013 stehen mehr als 2,1 Milliarden Euro für Life+ zur Verfügung.

Das EP befasste sich auch mit der Richtlinie über Umweltnormen im Bereich der Wasserpolitik. Da-rin werden Maßnahmen zur Verringerung der Wasserverschmutzung sowie die zulässige Konzentration von Schadstoffen festgelegt. Dabei geht es um Konzentrationsgrenzwerte in Oberflächengewässern für 41 Pestizide, Schwermetalle und andere gefährliche chemische Stoffe, die ein besonderes Risiko für die Fauna und Flora sowie die menschliche Gesundheit darstellen.

Die Abgeordnete Hiltrud Breyer (Bündnis 90 / Die Grünen) begrüßte die Tatsache, dass »die Abgeordneten dem Druck der Industrie widerstanden haben und die Liste der zu kontrollierenden Schadstoffe im Wasser verdoppeln wollen«. Das Votum sei »eine schallende Ohrfeige für die EU-Kommission, die einen unambitionierten Vorschlag gemacht hatte, der keinerlei Maßnahmen zur Reduzierung von Schadstoffemissionen im Wasser vorsieht«. Allerdings bedauerte sie gleichzeitig, dass das EU-Parlament einigen Anträgen auf »Druck der Hafenlobby« zustimmte, welche die Erfassung von Schadstoffen in Sedimenten, den Ablagerungen auf dem Wassergrund, ausklammern sollen.